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Aktionsforschung und Gruppendynamik

Aktualisiert: 20. Mai 2021

Andrea Tippe


Gruppendynamik bietet die Methode für den Lernprozess, in dem die Aufmerksamkeit auf die Art der Kooperation der Beteiligten in Bezug auf ihr Handeln im Hier-und-Jetzt gerichtet wird. Welche Annahmen liegen diesem Setting zugrunde? Wie sieht die Interventionspraxis in einem gruppendynamischen Aktionsforschungsseminar aus?


Gruppendynamik und Aktionsforschung sind zwei Begriffe, die von Jakob L. Moreno, Kurt Lewin, zwei in den 30er Jahren in die USA emigrierten Europäern, im Rahmen der entstehenden Sozialpsychologie entwickelt und geprägt wurden. Ursprünglich verwendet von Moreno, übernahm Lewin diese Termini und entwickelte seine eigenen Konzepte. Doch zurück zu den Anfängen: 1937 beschreibt Moreno sein Aktionsforschungskonzept, das seinen Ausgangspunkt in einer Situationsdiagnose nimmt und eine Situationsveränderung als Ziel ansieht. In diesem Prozess denkt er Forschende und Beforschten in einem egalitären Verhältnis zueinander. D.h. die Praxis ist nicht das „ganz andere“ Feld, das es zu erforschen gilt, sondern ForscherInnen und Beforschten steigen in einen gemeinsamen Prozess ein, in dem die Forschenden ihr ExpertInnenwissen den Teilnehmenden zur Verfügung stellen, mit dem Ziel der Umgestaltung und Veränderung der Situation. So gelten als zentrale Prinzipien u.a. die Mitbeteiligung der Betroffenen und damit die Einbeziehung der Beforschten in den Prozess; aus wissenschaftlichen werden teilnehmende BobachterInnen, die sich auch einer Veränderung unterziehen; Situationsbezogenheit; die Entwicklung von Forschungsinstrumenten aus der Situation; Umgestaltung und Veränderung der beforschten Situation und Interdisziplinarität. (Vgl. Bolen 2004, S. 254; Rechtien 2007, S. 15.)


Kurt Lewin entwickelte in den 40er Jahren einen eigeneständigen methodischen Ansatz und verwendete 1946 zum ersten Mal den Begriff „action research“ für seinen Lernansatz, der auf einer Integration von Handeln und Reflexion beruht. Für ihn stehen ForscherInnen und Beforschten und damit Handeln und Forschen in einem komplementären Verhältnis zueinander:


„Eine Gruppe von WissenschaftlerInnen (z.B. PsychologInnen, SoziologInnen, AnthropologInnen) und eine Gruppe von Menschen, die eine Veränderung ihrer sozialen (politischen) Situation anstrebt, erarbeiten gemeinsam in einem steten Wechselwirkungsprozess planend, ‚manipulierend’, kontrollierend, und reflektierend Veränderungsschritte, die sowohl der Gruppe der an Veränderung Interessierten als auch der Gruppe von ForscherInnen Gewinn bzw. Nutzen bringen soll.“ (Bolen 2004, S. 255).


Sein Aktionsforschungsansatz verfolgt einen emanzipatorischen wie auch demokratisierenden Anspruch. Bei ihm und in seiner Nachfolge lassen sich drei Typen der Aktionsforschung unterscheiden lassen:

  • „diagnostische Aktionsforschung, die eine Bestandsaufnahme der Situation und Veränderungsentwürfe erarbeitet,

  • empirische Aktionsforschung, durch die festgehalten wird, was während eines Handlungsablaufes geschieht,

  • teilnehmende Aktionsforschung, bei der der Forscher am Handlungsgeschehen teilnimmt und dieses durch seine Interaktion zu erhellen versucht.“ (Rechtien, 2007, S. 16.)

Beide – Moreno und Lewin – bringen Wissenschaft und Praxis in ein nahes Mit- und Ineinander. Wissenschaft wird im Dienste der sozialen Sache gesehen mit dem Ziel einer Situationsveränderung:


„Die für die soziale Praxis erforderliche Forschung lässt sich am besten als eine Forschung im Dienste sozialer Unternehmungen oder sozialer Technik kennzeichnen. Sie ist eine Art Tat-Forschung (‚action research‘), eine vergleichende Erforschung der Bedingungen und Wirkungen verschiedener Formen des sozialen Handelns und eine zu sozialem Handeln führende Forschung. Eine Forschung, die nichts anderes als Bücher hervorbringt, genügt nicht“ (Lewin 1946, S. 280).


Und die Gruppendynamik?


Die Gruppendynamik als Theorie der empirischen Sozialpsychologie und Methode zur Erhöhung der sozialen Kompetenz mit expliziter Konzentration auf Kommunikation über Kommunikation, ist nicht nur historisch eng mit der Aktionsforschung verbunden. Sie liefert das Verfahren, sich der stattfindenden Prozesse und Dynamiken, der eigenen Beiträge und Wirkungsweisen, der Interaktions- und Kommunikationsweisen in einer Gruppe bewusster zu werden und damit anders steuern zu können. Oder wie Inge Bohlen formuliert: "Gruppendynamik wird dabei als eine Möglichkeit gesehen, gesellschaftspolitische Strukturen zu erhellen, Vorurteile abzubauen und Bedingungen zu schaffen, die eine Emanzipation aus Abhängigkeiten und autoritätsgebundenem Verhalten zu demokratischen Strukturen hin erleichtern kann.“ (Bohlen 2004, S. 256f.)


Ein Aktionsforschungsseminar, das sich auf die Variablen eines gruppendynamischen Labors bezieht, impliziert folgende Settings und Interventionsinstrumentarien:

  • Eine Konsequenz aus dem Aktionsforschungsansatz ist es, sich auf das Hier und Jetzt zu beziehen. „Nach der Feldtheorie hängt das Verhalten weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft ab, sondern von dem gegenwärtigen Feld (dieses gegenwärtige Feld hat eine gewisse zeitliche 'Tiefe'. Es schließt die 'psychologische Vergangenheit', die 'psychologische Gegenwart' und die 'psychologische Zukunft', insofern sie eine der Dimensionen des zu einer bestimmten Zeit gegebenen Lebensraumes ausmachen, mit ein.)“ (Lewin 1982, S. 68, zit. n. Bolen 2004, S. 259.)

  • Für Lewin gilt: "Wirklich ist, was wirkt." Da das Aktionsfeld im gruppendynamischen Seminar die eigene, gegenwärtig wahrnehmbare Gruppe ist, erfordert dieser Denkansatz eigenes erlebtes Verhalten und Erleben als Ansatzpunkt, als Demonstrationsmaterial für Rollengeschehen und als Ausgangspunkt für Strategien, Erkenntnis und mögliche Kraftfeld- und Verhaltensveränderungen. (Vgl. Bolen 2004, S. 260.)

  • Ein wesentlicher Teil der gruppendynamischen Intervention bezieht sich auf Rückmeldungen (Feedback), die auch erlebtes Verhalten miteinbeziehen. Sie sollen helfen, den „blinden Fleck“ in der Selbstwahrnehmung zu verkleinern und damit „die Begegnung mit der prinzipiellen Selektivität der Selbst- und Fremdwahrnehmung“ (Wimmer 1990, S. 19) zu erfahren.

  • Die TrainerInnen unterstützen derartige Prozesse durch Interventionen, die Kooperation und Vertrauen fördern sollen, um Lernbedingungen zu schaffen, die verfestigten Rollen in Frage stellen können bzw. aufzubrechen, also sich neu zu verhalten. Die Mitglieder von gruppendynamischen Seminaren können „einmal ganz anders tun“, mit Rollen spielen und Rollen wechseln, um zu beobachten, was sich daraus für Wirkungen ergeben. Die TrainerInnen verstehen ihre Leitungsfunktion als „BegleiterInnen“ des Gruppenprozesses, die ihre Kompetenz zur Verfügung stellen. Dieses nicht-direktive Leitungsverhalten führt oft zu erheblichen Verunsicherungen auf Seiten der TeilnehmerInnen, speziell in Anfangssituationen. Das gruppendynamische Setting startet mit solchen Störungen, weil jene vertrauten Verkehrsformen und Autoritätsstrukturen, die normalerweise die diversen Unsicherheiten einer sozialen Anfangssituation absorbieren helfen, nicht zur Verfügung stehen. Irritation wird jedoch nicht dem Zufall überlassen, sondern absichtsvoll als Anlassfall produziert, um es für den gemeinsamen Untersuchungs- und Erkenntnisprozess zu nützen. (Vgl. Wimmer 1990, S. 17.)

  • Diese Prozesse sind laufend Gegenstand der Reflexion. Die Gruppe beobachtet sich im Aktionsforschungsseminar selbst und produziert das zu beobachtende Gruppengeschehen gleichzeitig. Die Fähigkeit, beobachtend zu handeln und handelnd zu beobachten, kann als die zentrale Lernerfahrung in gruppendynamischen Settings angesehen werden.

  • Dabei ist nicht nur von Belang individuelles Verhalten zu beobachten, sondern vor allem auf die Art zu achten, wie andere das Geschehen beobachten, welche Differenzschemata sie anwenden und zu welchen Wirklichkeitseinschätzungen sie dadurch kommen. Es geht nicht mehr um Richtig oder Falsch, denn die Beobachtung sagt gleichzeitig etwas über die Rolle und den Status im Hier und Jetzt aus.

  • Die TeilnehmerInnen erfahren auf diese Art und Weise, Wirklichkeiten zu konstruieren und dekodieren. Sie lernen zu verstehen, wie Wahrnehmungsmuster ihr eigenes Handeln und Intervenieren orientiert und wie die gewirkten Handlungen dazu dienen, die eigene Konstruktion der Welt immer wieder zu bestätigen. Die Steigerung der persönlichen Sensibilität für die Begrenztheit des eigenen Wahrnehmungsvermögens und damit für die Erfordernis, Rückmeldungen zu verarbeiten, um sich in unterschiedlichen sozialen Situationen und Milieus angemessene Orientierung zu verschaffen und verändert zu handeln, gehört zu den zentralen Grundlagen der Gruppendynamik als Methode.

  • Die Gruppendynamik ermöglicht deshalb im Aktionsforschungsseminar eine methodische Grundlage der Intervention, um der Prozess- und Aktionsorientierung eine Chance auf Entwicklung zu geben.</li

Literatur

  • Bolen, Inge (2004): Gruppendynamik. In: Hochgerner, Markus et al. (Hg.): Gestalttherapie. Wien: Facultas-Verlag, S. 253-271.

  • Lewin, Kurt (1946): Tat-Forschung und Minderheitenprobleme. In: Lewin, Kurt (1953): Die Lösung sozialer Konflikte. Bad Nauheim: Christian-Verlag, S. 278-298.

  • Rechtien, Wolfgang (2007): Angewandte Gruppendynamik. Ein Lehrbuch für Studierende und Praktiker. Weinheim/Basel: Beltz PVU.

  • Wimmer, Rudolf (1990): Wozu noch Gruppendynamik? Eine systemtheoretische Reflexion gruppendynamischer Arbeit. Gruppendynamik. Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie, Jg. 21, Heft 1, S. 5-28.

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